Bernhard Nadorf: „Das Friedensprojekt Europa“ – Rede auf einer Veranstaltung von „Pulse of Europe“ am 07.04.2019, auf dem Platz vor der Essener Marktkirche.
Liebe Mitglieder von „Pulse of Europe“, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Mein Name ist Bernhard Nadorf, und ich bin Vorsitzender der Deutsch-Englischen Gesellschaft Ruhr.
Frau Dr. Omlor von „Pulse of Europe“ hat mich eingeladen, heute zu Ihnen in der Vorbereitung auf die Wahl zum Europaparlament über das große Friedensprojekt Europa zu sprechen. Dafür möchte ich Ihnen, Frau Dr. Omlor, sehr herzlich danken.
Liebe Anwesende: Der 23. Mai, an dem die Wahlen zum Europaparlament beginnen, ist ein besonderer Tag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Am 23. Mai 1949, vor genau 70 Jahren, hat der Parlamentarische Rat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet.
Was verbindet den 23. Mai 1949 mit dem 23. Mai 2019?
Es ist die Präambel unserer Verfassung. Dort heißt es: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland dann am 26. Mai an der Europawahl teilnehmen, so erfüllen wir damit einen Verfassungsauftrag.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Die Geschichte Deutschlands handelt von Sehnsucht und von Hoffnung: Unsere Nationalhymne, die aus dem Jahre 1841 stammt, bringt diese Zukunftserwartungen eindrucksvoll zum Ausdruck: Wir singen von Einigkeit und Recht und Freiheit für das Deutsche Vaterland.
In unserer Nationalhymne und in unserer Verfassung geht es um Grundwerte, die in unserer Geschichte missachtet und in Zukunft geachtet werden sollten.
Dies betrifft insbesondere den Artikel 1 des Grundgesetzes: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Die Wahrung der Menschenwürde und der Einsatz für Einigkeit und Recht und Freiheit in einem vereinten Europa – dies sind Verpflichtungen, die sich aus unserer Geschichte ergeben. Sie gehören zur DNA unseres Landes.
Unsere Familien – wir alle – sind von dieser Geschichte unmittelbar betroffen.
Wir gehören zur Nachkriegsgeneration, unsere Großeltern und Urgroßeltern gehörten der Kriegsgeneration an.
Versetzen wir uns heute einmal in die Situation unseres Urgroßvaters, der nicht – wie viele von Ihnen – in den 90er Jahren des 20., sondern in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren wurde. Er hat die Zeit des Nationalismus und des Imperialismus persönlich miterlebt. „Am Deutschen Wesen soll die Welt genesen.“ So lautete die Devise der deutschen Außenpolitik im Kaiserreich.
Betrachten wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts einmal aus seiner Perspektive. Wenn wir davon ausgehen, dass er im Jahre 1890 geboren wurde, dann zog er 1914 im Alter von 24 Jahren in den Ersten Weltkrieg; als er 28 Jahre alt war, kehrte er in die Heimat zurück – anders als vielleicht viele seiner Freunde, die in jungen Jahren auf den Schlachtfeldern in Flandern, auf dem Balkan oder in Russland gefallen waren.
Der Friedensvertrag von Versailles, der den ersten Weltkrieg beendete, wurde von ihm und den meisten Deutschen als „Diktatfriede“ empfunden und wurde zu einer dauerhaften Belastung der Deutsch-Französischen Beziehungen.
Als er 33 Jahre alt war, besetzten französische Truppen das Ruhrgebiet; dies wiederum führte zu Aufständen in Sachsen und Thüringen. Hitler putschte in München, und die Hyperinflation, die im November dieses Jahres ihren Höhepunkt erreichte, war für viele Menschen existenzbedrohend und zerstörte ihr Vertrauen in die Demokratie.
Die Weimarer Republik wurde durch politische Unruhen, ständig wechselnde Regierungen, durch Hunger, Arbeitslosigkeit, Inflation und schließlich durch den Aufstieg der Nationalsozialisten erschüttert – das hat die nächsten 14 Jahre seines Lebens geprägt. Als die braunen paramilitärischen Verbände am 30. Januar 1933 an Hitler vorbei durch das Brandenburger Tor marschierten, war er 43 Jahre alt, und in den darauf folgenden 6 Jahren litt er unter dem nationalsozialistischen Terrorregime – ohne „Recht“ und ohne „Freiheit“. Dann wieder 6 Jahre Krieg von 1939 bis 1945. Am Ende wurde er noch zum Volkssturm eingezogen. Bis zu seinem 55. Lebensjahr erlebte er nur „Unfrieden“, „Unfreiheit“ und „Unrecht“.
Liebe Anwesende: Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben tiefe Wunden geschlagen, und die Schlachtfelder in Europa sind die heute immer noch sichtbaren Narben unserer Geschichte: Sedan, Verdun und Stalingrad, um nur einige wenige zu nennen. Die nicht enden wollenden Reihen von weißen Kreuzen in Belgien und Nordfrankreich sind die stummen Zeugen dieser Vergangenheit.
Am 8. Mai 1945, als das Deutsche Reich kapitulierte, war der Urgroßvater 55 Jahre alt; es war, wie der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede am 8. Mai 1985 zu Recht betonte, ein Tag der Befreiung. Britische Truppen befreiten das Konzentrationslager Bergen-Belsen und rückten in das Ruhrgebiet vor, wo sie die führenden Mitglieder der NSDAP verhafteten und vor Gericht stellten. Der britische Premierminister Winston Churchill rief in seiner berühmten Züricher Rede vom 19. September 1946 zur „blessful oblivion“ auf (zu einem segensreichen Vergessen) und bezeichnete die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland als Schlüssel zur Einheit Europas. Es war die Politik der „ausgestreckten Hand“.
Die Briten zogen damit eine wichtige Lehre aus dem Friedensvertrag von Versailles und legten die Grundlage für eine neue dauerhafte europäische Friedensordnung. Im Ruhrgebiet leiteten sie den Aufbau einer demokratischen kommunalen Selbstverwaltung ein; auf dem Boden des ehemaligen Preußen gründeten sie mit der „Operation marriage“ unser Bundesland Nordrhein-Westfalen. Die Tatsache, dass wir heute hier unsere Meinung sagen und uns auch kritisch mit den Briten auseinandersetzen können, ist in allererster Linie den Briten selbst zu verdanken, die damals Demokratie und Meinungsfreiheit im Ruhrgebiet und in Deutschland fest verankert haben.
Und „Last, but not least“ – gehörte der Leiter des „Re-Education“ Programms in der britischen Besatzungszone, Sir Robert Birley, zu den Gründern der Deutsch-Englischen Gesellschaft im Jahre 1949. Er war es auch, der die Goldene Madonna in den Dom von Essen zurückbrachte.
Das Ruhrgebiet, das Land Nordrhein-Westfalen, die Bundesrepublik Deutschland und Europa haben Großbritannien viel zu verdanken. Liebe Anwesende: Warum gehe ich so ausführlich auf die historischen Leistungen der Briten bei dem Aufbau der demokratischen Ordnung in Deutschland ein und warum betone ich ihren Einsatz für die europäische Einheit?
Ich tue dies vor allem deshalb, um damit weit verbreiteten Vorurteilen und Klischees gegenüber unseren britischen Nachbarn entgegenzuwirken und um Sie einzuladen, die Geschichte der europäischen Einheit auch unter ihrem Blickwinkel zu betrachten.
Das Bild Großbritanniens auf dem Kontinent gleicht oft einer Karikatur von einem Inselvolk, das in der Vergangenheit lebt und vom Empire träumt. Dies ist allerdings nicht einmal die halbe Wahrheit und trifft allenfalls auf einen kleinen Teil der älteren Generation zu, ganz sicherlich aber nicht auf die jungen Menschen, die an Erasmusprogrammen teilnehmen und sich in Europa zuhause fühlen.
Wir sollten gerade in dieser Zeit, in der es einige in Brüssel und auch in anderen europäischen Hauptstädten zu geben scheint, die einen Brexit sogar begrüßen würden, die Leistungen Großbritanniens für den Frieden in Europa würdigen, auch wenn wir den Ausgang des Referendums und die gegenwärtige Europapolitik der Britischen Regierung und des Unterhauses – wie übrigens auch viele Briten selbst – kritisch beurteilen.
Großbritannien ist 1939 in den Zweiten Weltkrieg eingetreten, um die territoriale Integrität und Souveränität Polens zu verteidigen; es hat Menschen aus Deutschland und aus Europa, die vor Verfolgung und Terror aus ihrer Heimat geflohen sind, politisches Asyl gewährt; es war das einzige Land, das durchgehend und unbeugsam gegen den Nationalsozialismus gekämpft und dabei viele Opfer auf sich genommen hat. Wir sollten nicht vergessen, dass uns die britische Armee von Hitler befreit hat.
Wenn wir in diesem Jahr 70 Jahre Grundgesetz und 74 Jahre Frieden in Europa feiern, dann sollten wir auch daran erinnern, dass britische Truppen 40 Jahre lang diesen Frieden im Kalten Krieg verteidigt haben.
Kommen wir zur Biografie des Urgroßvaters zurück. Als Kind des Ruhrgebiets hat er eines der großen Narrative unserer Heimat, den Wandel vom Krieg zum Frieden, zum Teil persönlich miterlebt. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts war Kaiser Wilhelm II wiederholt in der Villa Hügel zu Gast, um die Entwicklung neuer Waffensysteme zu inspizieren. Am 26. September 1937 besuchten Hitler und Mussolini Essen und wurden mit einem großen Banner auf der Fassade des Hotels Handelshof in der „Waffenschmiede des Deutschen Reiches“ begrüßt.
Was er leider nicht mehr erlebt hat, war das Jahr 2010, als vor dem gleichen Hotel, vor dem die „Waffenschmiede des Deutschen Reiches“ im Jahre 1937 Hitler und Mussolini begrüßt hatte, die Fahne der europäischen Gemeinschaft wehte, und der damalige EU-Präsident Manuel Barroso auf dem Weltkulturerbe Zeche Zollverein das Jahr ausrief, in dem Essen, stellvertretend für das gesamte Ruhrgebiet, „Cultural city of Europe“ wurde.
Ein Meilenstein auf dem langen Weg vom Krieg zum Frieden, von der Waffenschmiede des deutschen Reiches zur Kulturhauptstadt Europas war die Gründung der Montanunion, die er im Alter von 62 Jahren miterleben durfte.
Hier im Ruhrgebiet stand die Wiege des großen Friedensprojektes „Europäische Gemeinschaft“, und gerade deshalb haben wir – so glaube ich – eine besondere Verpflichtung, für das Wohl unseres Baby`s zu sorgen, vor allem, wenn es – wie heute – lebensbedrohlich und existentiell gefährdet ist. Denn der Puls dieses Baby`s ist der „Pulse of Europe“.
Im Jahre 1989 – kurz vor seinem Tod – wurde der Dream, den unsere Urgroßeltern und mit ihnen die Deutschen seit 1949 geträumt hatten, wahr: Einigkeit und Recht und Freiheit in einem vereinten Europa – auch für die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands, deren Urgroßväter ihr ganzes Leben auf die Erfüllung dieses Dreams gewartet hatten.
Die Aussöhnung zwischen den Völkern Europas fand an den Orten statt, die zu Symbolen von Unversöhnlichkeit geworden waren: Im Dom von Reims, wo der Waffenstillstand im Jahre 1945 unterzeichnet worden war, besiegelten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer am 8. Juli 1962 die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich.
Unvergessen ist auch der 7. Dezember 1970, als der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt in einer bewegenden Geste vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos niederkniete, um die jüdische Kampforganisation zu würdigen, die im Mai 1943 vergeblich versucht hatte, die Deportation ihrer jüdischen Leidensgenossen in die Vernichtungslager zu verhindern.
Wir denken auch zurück an den 22. September 1984, als sich Helmut Kohl und Francois Mitterand über den Gräbern von Verdun die Hände reichten und an den 10. November 2018, als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Kopf im Wald von Compiegne vertrauensvoll auf die Schulter des französischen Präsidenten Emmanuel Macron legte – vor dem Eisenbahn-Salonwagen, in dem zuerst die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg und dann die Franzosen im Jahr 1940 kapituliert hatten.
Wir sind auch dankbar dafür, dass unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als erstes deutsches Staatsoberhaupt im November 2018 von Queen Elisabeth II zu den Feierlichkeiten am traditionellen „Armistice day“ eingeladen wurde – 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg; er legte einen Kranz vor dem „Cenotaph“ in London nieder – im Gedenken an die Soldaten, die in zwei Weltkriegen auf alliierter Seite gefallen sind.
Heute sind unsere Städte mit vielen Städten in Europa verschwistert. Die Engländer sprechen nicht von „Sisters“, sondern von „twins“ und von „twin cities“. „Twins“ sind Zwillinge, die am gleichen Tag geboren wurden; sie haben das gleiche Aussehen und gehören – sogar noch enger als Geschwister – untrennbar zusammen.
Wer hätte es für möglich gehalten, dass Dresden und Coventry „Zwillinge“ wurden, obwohl die deutsche Luftwaffe die Kathedrale von Coventry und mit ihr die Stadt zerstört und die britische Luftwaffe Dresden und die Frauenkirche in Schutt und Asche gelegt hatten.
Die Twin cities und Twin schools sind Teil einer „grassroots“ Bewegung, die ohne die Einigung Europas nicht denkbar ist. Sie ist nach meiner festen Überzeugung „unkaputtbar“, weil sie in den Herzen der Menschen verwurzelt ist. In der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ist sie „populär“ und nicht „populistisch“. Die Twins bilden die tragenden Pfeiler einer Brücke, die auch den Brexit überdauern und hoffentlich eines Tages wieder zu einem neuen „twinning“ zwischen Großbritannien und Europa führen wird. Wir sollten den Rasen, den unsere Großväter ausgesät haben, pfleglich behandeln und gut bewässern, sodass die Graßwurzeln nicht verdorren – und das 70jährige Jubiläum der Partnerschaft zwischen Essen und Sunderland in diesem Jahr ist sicherlich ein willkommener Anlass, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Städten mit neuem Leben zu erfüllen – trotz oder gerade wegen des bevorstehenden Brexit.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Warum habe ich die Entwicklung Europas aus der Sicht eines Mitglieds meiner und Ihrer Familie betrachtet? Ich wollte Ihnen damit deutlich machen, dass Europa kein theoretisches Konstrukt ist, das sich einige kluge Köpfe ausgedacht haben; es ist vielmehr ein einmaliges Friedensprojekt, das uns und unsere Familien sehr konkret betrifft. Unsere Großeltern haben nur 45 Jahre in Frieden und Freiheit gelebt, wir als Angehörige der Nachkriegsgeneration bereits jetzt 70 Jahre. Nur wenn wir wissen, was Krieg und Diktatur bedeuten, können wir den fundamentalen Wert des Friedens und der Freiheit wirklich ermessen und schätzen.
Es geht aber heute nicht um einen nostalgischen Rückblick, sondern um die Verantwortung, die wir für die Zukunft unserer Urenkel tragen. Johann Wolfgang von Goethe würde uns zurufen: „Was du ererbt von deinen Vätern, Erwirb es, um es zu besitzen.“
Wir müssen uns gerade in der heutigen Zeit bewusst machen, dass wir den Frieden immer wieder neu erwerben müssen, um ihn zu besitzen. Dies betrifft nicht nur die drohende Stationierung von Mittelstreckenraketen auf europäischen Boden, sondern vor allem die Wahrung des Friedens in Nordirland. Gerade jetzt befassen sich noch die Gerichte mit den Folgen des „Bloody Sunday“ im Jahre 1972. Der Bürgerkrieg bewegt immer noch die Menschen in Nordirland, und viele trauen dem zerbrechlichen Frieden nicht, auch wenn der Konflikt durch das „Very Good Good Friday agreement“ im Jahre 1998 beigelegt werden konnte und nun schon seit 21 Jahren hält. Ich denke, dass wir es unseren Urgroßeltern schuldig sind, uns mit aller Kraft gemeinsam mit unseren Partnern in Großbritannien für die Erhaltung des Friedens in Nordirland einsetzen und damit unsere Glaubwürdigkeit als Friedensgemeinschaft unter Beweis zu stellen.
Darauf vertrauen die Menschen in Nordirland. Wir dürfen sie nicht enttäuschen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Auch ich verbinde mit den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich eigene biografische Erfahrungen.
Als Großbritannien am 1. Januar 1973 der Europäischen Gemeinschaft beitrat, war ich als Lehrer an der „Manchester Grammar School“ tätig. Meine Frau stammt aus Manchester, die Stadt ist ihr erstes und mein zweites Zuhause.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass der Beitritt Großbritanniens von bitteren Auseinandersetzungen überschattet war, und damals wie heute ging der Riss quer durch die Familien.
Am 1.1.1973 waren die Mancunians „in“, am frühen Morgen des 24. Juni 2016 wurde ausgerechnet im Rathaus von Manchester verkündet: „We are out“. Ich habe also die „ins“ und „outs“ persönlich erlebt und deshalb kann ich mir auch gut ein „We will make a comeback“ vorstellen.
Es gehört zu den verpassten Chancen Europas, dass viele junge Menschen im Vereinigten Königreich damals nicht am Referendum teilgenommen haben, auch weil sie „cocksure“, also absolut sicher waren, dass die Mehrheit der Wahlberechtigten für den Verbleib Großbritanniens in der EU votieren würde. Heute sprechen sie häufig im Konditional II: „Hätten wir doch“ oder „Wären wir doch gewesen“.
Aber: „It is as it is.“, wie die Engländer als Pragmatiker sagen.
Sie alle haben die Chance, das „Hätten wir doch“ durch das „Wir werden“ zu ersetzen, indem Sie sich an der Europawahl beteiligen und nicht wie 2016 darauf vertrauen, dass das Ergebnis schon jetzt feststeht.
Zu den „Hätten wir doch“ und „Wären wir doch gewesen“ gehört auch ein anderes Versäumnis, das ich hier ansprechen möchte: In einem Europa, das zutiefst gespalten ist, müssen wir den Dialog mit Menschen suchen, die unsere Begeisterung für die Europäische Union nicht teilen: Mit Jugendlichen in den benachteiligten Stadtbezirken in Essen und im Ruhrgebiet, aber auch darüber hinaus mit unseren arbeitslosen Altersgenossen in Süditalien oder in den trostlosen französischen Banlieus, also mit allen Menschen, die gute Gründe haben, der Europäischen Union und auch den Europawahlen kritisch bis ablehnend gegenüber zu stehen. Auch sie gehören mit uns zu Europa, und wir können Europas Zukunft nur dann gestalten, wenn wir aufeinander zugehen und die Gräben, die uns trennen, überwinden. Wir sind nicht alle „follower“, „sharer“ und „liker“, wir müssen auch die „non-follower“ „non sharer“ und die „disliker“ mit ihren Argumenten ernst nehmen. Auf die Notwendigkeit dieses Dialogs und auf die Bereitschaft, Anderen, die nicht unserer Meinung sind, zuzuhören, hat gerade unser Bundespräsident in seiner Neujahrsansprache hingewiesen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Wenn sich Ehepaare trennen, so ist das immer sehr schmerzhaft, vor allem, wenn sie – wie Großbritannien und die EU – 46 Jahre verheiratet waren. Aber: Wie sagt man: „wir sind ja nicht aus der Welt.“ Schließlich haben wir ja das gemeinsame Sorgerecht für unser Kind, und wir werden uns auch weiterhin begegnen: In der NATO, in der UNO und in anderen internationalen Organisationen. Großbritannien gehört auch nach dem Austritt aus der Europäischen Union zu Europa, zu wem sonst? Die Briten werden sich vor allem immer dann um ihr Kind Europa kümmern, wenn es um seine innere und äußere Sicherheit geht – das tun sie ja ohnehin schon seit 80 Jahren.
Auch die Kinder werden weiterhin ihre Eltern regelmäßig besuchen und so die Verbindung zwischen ihnen aufrechterhalten. Und vielleicht werden sie Mutter und Vater auch im Laufe der Zeit dazu bewegen können, wieder zum Standesamt zu gehen…
Warum nicht und warum nicht bald?
Deshalb sollten wir uns nicht mit einem „Good-bye“, sondern mit einem „Auf Wiedersehen“ voneinander verabschieden. Eine zentrale Voraussetzung für eine „re-marriage“ ist jedoch das, was die Briten eine „amicable divorce“ nennen, eine Scheidung also, die aus Freunden keine Feinde macht und das Klima in der Familie nicht nachhaltig und irreparabel vergiftet. Deshalb beobachte ich mit Sorge, dass in der Berichterstattung über den Brexit nicht selten eine gewisse Schadenfreude mitschwingt. „Schadenfreude“: Dieses deutsche Wort gibt es auch in der englischen Sprache. Es wird also in Großbritannien sehr gut verstanden.
Die Freude über den Schaden Anderer ist gerade in der jetzigen Situation schädlich und kontraproduktiv. Es gehört geradezu zur DNA Europas, Freude zu teilen, denn sie ist schließlich … ein schöner Götterfunke….
Es gibt jedoch nicht nur die Freude, sondern auch die Vorfreude. Freuen Sie sich darauf, dass Sie am Verfassungstag der Bundesrepublik Deutschland – anders als Ihre Urgroßeltern – Ihre Stimme für Europa abgeben dürfen.
So bitte ich Sie sehr herzlich: Gehen Sie am 26. Mai zur Wahl! Tun Sie es für IHRE Urenkel – und denken Sie dabei an das Jahr 2090.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.